Sonntag, 6. Oktober 2013

Abschied


Ich öffne meine Augen und sehe Staubkörner, begleitet vom Sonnenlicht, die tanzend auf meinen müden Körper fallen. Langsam drehe ich mich, auf der viel zu weichen Matratze im Gästezimmer meiner Eltern, auf die Seite und umklammere mit beiden Beinen die kalte Bettdecke.  Stille. Vorsichtig nähern sich leise Schritte meiner Tür und eine Stimme flüstert meinen Namen. Stille. Die Tür öffnet sich langsam, und starrende Blicke durchbohren meinen reglosen Rücken. Die Stimme meiner Mutter fragt mich, ob ich etwas essen möchte und sie klingt unglaublich weit entfernt. Die Tür schließt sich und unbemerkt übernimmt mein Körper die Kontrolle, indem er in ein zitterndes Schluchzen ausbricht, welches ich um jeden Preis vermeiden wollte. Einsame Tränen bewegen sich glitzernd aus meinen Augenwinkeln in Richtung Nase und kitzeln mich zusammen mit den staubigen Sonnenstrahlen.
Atmen. Neben mir vibriert unruhig blinkend mein Handy. Ich drehe mich auf den Rücken und versuche nicht an dich zu denken. Atmen. Atmen. Ein Gefühl der Leere durchfließt meinen Körper und ich fühle mich schrecklich einsam. In diesem Moment an dich zu denken, mich nach dir zu sehnen und dich so unglaublich zu vermissen kommt mir falsch vor. Meine Tränen dürfen nicht dir gehören, nicht heute. Nicht jetzt. Atmen. Atmen. Ich stehe auf und gehe langsam zum Kleiderschrank, an dem schon ein Kleid hängt, welches meine Mutter für mich gebügelt hat. Schwarz. Ich streife es über und fahre mir mit den Fingern durch die Haare, während ich mir in Zeitlupe die Zähne putze. Im Spiegel vor mir blicke ich einer Fremden ins Gesicht. Sie sieht traurig aus und die dunklen Ringe unter ihren feuchten, blassen Augen scheinen nicht erst von gestern zu sein. Teilnahmslos.
Der Kopf der fremden Frau im Spiegel neigt sich zusammen mit meinem dem Waschbecken zu, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu streichen. Wieder ruft jemand meinen Namen. Ich schleife meinen schwachen Körper ins Wohnzimmer und sehe einen fahlen, verletzlich wirkenden Mann, dem unerbittlich Tränen aus seinen geröteten Augen laufen. Ich habe meinen Vater vorher noch nie weinen sehen. Als ob er nur darauf gewartet hätte, erwidert er meine Umarmung und sackt noch ein kleines bisschen in sich zusammen. Ein gestandener Mann, plötzlich ganz klein.
Ich versuche ihn anzulächeln, irgendetwas Aufmunterndes zu sagen, ihn zu trösten, aber ich kann nicht. Mein Blick bleibt leer. Und meine Gedanken sind wieder bei dir. Atmen. Immer weiter Atmen.
Im Auto sitze ich neben meiner Großmutter und meinem Bruder. Beide schwach an Kraft und ruhig weinend. Meine Hände halten die weißen Rosen, die später auf dem Grab liegen werden und mir wird bewusst, dass es nicht nur falsch, sondern auch dreist ist, in einem solchen Augenblick an dich zu denken. Doch ich kann nichts dagegen tun, nichts gegen meine Gefühle, nichts gegen meine Gedanken und den Wunsch jetzt bei dir zu sein. Ich wäre gerade nirgendwo lieber als in deinem Bett, weinend an dich gekuschelt, damit du mich tröstest, damit du mir sagst, dass alles gut wird. Damit du zusammen mit mir um meinen Großvater trauerst.
Aber ich bin alleine auf dem Weg zur Beerdigung meines Opas, der nun für immer fort ist, und meine Gedanken und Gefühle gehorchen mir nicht. Der Wagen biegt auf die Friedhofseinfahrt ab und ich lasse die Blumen in meinen Schoss sinken, um an der Schulter meines Bruders zusammenzubrechen.

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